Oliver for Lutz Felbick:
If you look at music history from the perspective of the Carolingian power center in Aachen/Aix la Chapelle, the result is an overall view, which is not recognizable when considering individual facts singularly. My research about Musica Albini (Wien ÖNB Cpv 2269) is based on Möller (1993) who discusses the conection between the Tonar von St. Riquier and the sources of Aurelians de octo tonis (Aurélien von Réomé). You will find this text and literature on MY PAGE. To what extent this topic then fits this group, you will see.
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Der von Aurelian Reomensis (Aurélien von Réomé) aus älteren Quellen übernommene Text über das mittelalterliche Tonsystem erscheint im 8. Kapitel seiner in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts verfassten Musica Disciplina, hier mit der Überschrift de tonis octo. Diese Textfassung stimmt fast wörtlich mit der Quelle Musica Albini (Wien Cpv 2269) überein. Außerdem bezeugt Aurelian, dass Karl, von seinen Kantoren unterrichtet, die Einführung von vier weiteren Tonarten für nötig befand, um dem Schatz der Melodien gerecht zu werden. Einige Kantoren hätten versichert, daß gewisse Antiphonen nicht in die Ordnung der acht Kirchentöne hineinpaßten. Damit gibt Aurelian einen Hinweis auf den Zeitpunkt der Diskussion über die acht bzw. zwölf Töne und bezeugt, dass diese Fragen in direktem Umfeld von Karl dem Großen erörtert wurden, den Aurelian an dieser Stelle seinen "avus" (Vorfahren, Großvater) nennt.
Michel Huglo hat den „Tonar von St. Riquier als Zeuge für den verschollenen Tonar von Aachen“ aufgezeigt. Dieses verschollene Aachener Urexemplar sei noch vor dem Tonar von Saint-Riquier als Archetyp des karolingischen Tonars zu betrachten. In diesem Zusammenhang erwähnt Huglo auch die Schrift Musica Albini. Diese stamme „ohne Zweifel aus der Akademie des Palastes in Aachen" (Huglo 2000, S. 81-87).
Terminologisch sind hinsichtlich des frühmittelalterlichen Tonsystems manche Überschneidungen zu den byzantischen Octoechos festzustellen, die allerdings in inhaltlicher Hinsicht nicht vorliegen (Gerlach 2006).
In der in Aachen verfassten Admonitio generalis bringt Karl der Große und Alkuin ihre Bemühungen um die "Psalmos, notas, cantus..." zum Ausdruck.
Am karolingischen Hof in Aachen wurde 826 die hydraulis als besonders wertvoller "Musikautomat" bewundert. Kurz danach wurde dieses Instrument im Utrechter Psalter abgebildet.
Wenn man Musikgeschichte aus der Perspektive dieses karolingischen Machtzentrums in Aachen betrachtet , ergibt sich eine Gesamtsicht, die bei singulärer Betrachtung der Fakten nicht erkennbar wird.
Anmerkung für spätere Leser zum besseren Verständnis: Herr Felbick hat seine Antworten aus dieser Diskussion entfernt.
Replies
Was Aurelian mit "4" meint ist klar: weder Modi noch Psalmtöne, sondern Ichimata, die in den karolingischen Tonaren üblich sind!!!
Aber dass er auf Geheiss von Karl dem Großen die Silben für vier weitere vorschreibt, auf dass aus acht Tonarten zwölf werden, das finde ich wirklich stark!
Noch etwas, was ich besonders lustig fand, ist der Absatz I.2.b im Artikel Modus der MGG. David Hiley steuerte Abschnitt 2. “Praktische Anwendung der Modi” bei und schrieb in einem Absatz über “Die Echoi des byzantinischen liturgischen Gesangs” über eine gewisse Kraftprotzerei bei Aurelian:
Die Darstellungsweise im 8. Kap. der Musica disciplina läßt vermuten, daß die karolingischen Kirchenmusiker die Bedeutung des Systems für die Byzantiner erkannten und es auf irgendeine Weise nachahmten. Aurelianus selbst war sich jedoch wahrscheinlich der Bedeutung des Systems nicht völlig bewußt oder konnte sie zumindest nicht zum Ausdruck bringen.
»Extitere etenim nonnulli cantores qui quasdam esse antiphonas que nulle earum regule possent aptari asserverunt; unde pius augustus avus vester Carolus paterque totius orbis iiii augere iussit quorum hic vocabula subter tenentur inserta: ANANNO NOEANE NONANNOEANE NOEANE. Et quia gloriabantur Greci suo se ingenio octo indeptos esse tonos, maluit ille duodenarium adimplere numerum. Tunc demum Greci possent ut nobis esse communes et eorum habere contubernium philosophia cum Latinorum; et ne forte inferiores invenirentur gradu, itidem[que] quattuor ediderunt tonos, quorum hic prescribere censui litteraturam: NENOTENEANO NOEANO ANNO ANNES«
(»Es hat nämlich einige Sänger gegeben, die sich darüber beschwerten, daß gewisse Antiphonen sich den Regeln [gemeint ist das System der acht Modi] nicht anpassen ließen. Daher verordnete euer frommer und erlauchter Ahn Karl, Vater des ganzen Weltkreises, vier [Modi? Psalmtöne?] hinzuzufügen, deren Wörter hier eingesetzt werden: ANANNO NOEANE NONANNOEANE NOEANE. Und weil die Griechen sich rühmten, daß ihre Klugheit die acht Modi vervollkommnet habe, wollte er [Karl] lieber, die Zahl auf zwölf aufrunden. Dann haben die Griechen, um mit uns Schritt zu halten und das philosophische Niveau der Lateiner zu teilen, und damit sie sich auf keinem niedrigeren Rang finden würden, gleichfalls vier Modi hinzugefügt; deren Wörter hier vorzuschreiben mich gutdünkte: NENOTENEANO NOEANO ANNO ANNES«.)
Er scheint in jedem Fall die byzantinische Praxis gut genug gekannt zu haben, dass er entdeckte, dass sich hinter den acht Tonarten ja weitaus mehr als nur 8 Meli verbargen!
Die Achtzahl war systemisch und liturgisch motiviert:
Bereits der Hagiopolites diskutiert, wo man dann die beiden phthorai bzw. mesoi unter den 8 Tonarten unterbringen kann, aber natürlich gab es noch viel mehr Meli als bloß die 10 Tonarten, die der Autor des Hagiopolites gelten lässt (dessen Zuordnung zu den 8 sich tatsächlich von den Schlussbildungen leiten liess). Aurelius dagegen bemerkt, dass es neben nana und nenano noch andere Ansingformeln (Ichimata) gegeben hatte.
Lieber Herr Felbick
Ich komme leider erst jetzt dazu, aber da Sie sehr an der karolingischen Rezeption byzantinischer Musiktheorie oder zumindest, wie Sie schreiben, am Zeitraum von der Aachener Admonitio generalis bis zur Musica disciplina Aurelians interessiert sind (also grob geschätzt zwischen 789 und 850), dürfte Charles Atkinsons Vortrag, den er Anfang September auf einer Tagung in Bukarest zum Thema “Musical and Cultural Osmoses in the Balkans” gehalten hat, von größtem Interesse für Sie sein. Natürlich gebe ich zu, dass die Rolle des Patriarchats von Jerusalem, um die es bei der karolingischen Oktoichosrezeption geht, etwas über das Gebiet des Balkan hinausführt, aber die Byzantinisten und Slavisten, die sich mit Hymnographie beschäftigen, haben sich schon längst daran gewöhnt (und so auch Peter Jeffery, der die Gregorianisten unter uns, sofern sie sich noch so nennen möchten, nicht mit so “abwegigen” Themen verschonen wollte).
Charles’ Vortrag hatte das Thema “On Modulation in Byzantine and Early Western: The Treatise of Manuel Chrysaphes, the Papadikai and the Enchiriadis Complex”.
Schon angesichts des Titels sehe ich Sie rebellieren, dass Manuel Chrysaphis’ Traktat ja bereits das Ende von Byzanz musikalisch reflektiert hat, also mehr als 600 Jahre über die von Ihnen anvisierte Grenze hinausschießt. Aber das ist nicht Charles Atkinsons Schuld, dass sich die byzantinische Forschung so an spätbyzantinischen Quellen festgebissen hat. Da ja vor allem in Zusammenhang mit Aachen und der Pfalzkapelle das Interesse auf den Kathedralritus der Hagia Sophia gerichtet wäre, muss ich leider zugeben, dass die von Christian Thodberg anvisierte Diskussion zur Modalität der byzantinischen Musik in diesem engen Sinn (deren Tonsystem angeblich triphon organisiert war) sich über die Jahrzehnte nicht gerade weiterentwickelt hat in unserem Fach (hierzu eine Literaturliste, die ich kürzlich hier gepostet habe).
Aber drei meiner Anmerkungen in unserer Korrespondenz hat Charles’ Vortrag bestätigt:
1. Man soll niemals das Wissen historischer Autoren noch das eigene Unwissen beim Lesen unterschätzen!
2. Die Quelle, die am meisten in diesen östlichen Bereich vorgestossen ist, werden wohl die Autoren der Scolica und Musica enchiriadis sein, die auch den Begriff absonia entscheidend geprägt haben, und eindeutig in den von Ihnen anvisierten Ausschnitt passen (ich übergehe jetzt kühne Versuche, ihn noch davor datieren zu wollen!).
3. Wahrscheinlich stammt in diesem Fall “modulation” aus der Chrysaphis-Übersetzung von Dimitri Conomos, der diesen Traktat bei der MMB herausgegeben und übersetzt hat, ist aber in der Musikwissenschaft bereits durch Jacques Handschins Buch über den Toncharakter eingeführt worden (sogar in der deutschen Sprache!). Diejenigen, die bei mir Musiktheorie studiert haben, werden sofort fragen, welche metavolī solle damit gemeint sein (soweit zu Ihrer Frage, ob es hier um Mikrotöne oder vielleicht um etwas anderes geht).
Ich gebe gerne zu, dass Charles’ Vortrag mich positiv überrascht hat. Da er uns mit einem achtseitigen Handout mit Zitaten verwöhnt hat, kann ich also noch etwas mehr an sonus-Zitaten beisteuern...
Sein Beispiel 17 im Handout mit der eigenen Übersetzung, die ich hier unverfälscht wiedergebe:
“Tone-system of Musica and Scolica enchiriadis [meine Anmerkung: das tetraphone Dasiasystem], as appearing in Inchiriadon Uchubaldi Francigenae (from Hans Schmid, ed. Musica et Scolica enchiriadis, 189-90)
Notae eorum hae sunt et is ordo [signa], horum ergo continua multiplicatione sonorum infinitas texitur, et tamdiu quaterni quaternis eiusdem conditionis succedunt, donec vel ascendendo in nimium acumen extenuantur, vel descendendo usque in silentium deficiant.
(These as their notes and this is their order: [hier fügte er handschriftlich die vier Grundzeichen des Dasia Systems ein, die für den Tetrachord der finales hier nach Hucbald dagegen terminales verwendet werden, siehe VMKIII:190 im Scan von TML, der Beispeil 17 abschließt]. By continuous multiplication, an infinity of these sounds is woven, and they continue succeeding each other, four by four of the same structure, until either in ascending to too great in height they be made too thin, or descending into silence, they end. [genau wie in der Parallagi, tetraphones Solfeggio mit den Ichimata, nach den Traktaten, die zwischen dem 13. und dem 18. Jahrhundert “Papadikai” genannt werden])”
Dagegen werden auch andere Tetrachorde permutiert und dann über die Tetraphonie multipliziert (Beispiel 13 in Charles’ Handout), d.h. die Folge der Töne kann auch auf andere Quartgattungen angewandt und bis in die Unendlichkeit über die tetraphone Parallagi vervielfältigt werden. Aber die drei von Charles hervorgehobenen Worte kommen auch dort vor!
Mein Vorschlag für eine deutsche Übersetzung wäre:
Die Töne derselben folgen auch in deren Reihenfolge [Dasiazeichen für D E F G], auf diese Art in fortwährender Vervielfältigung wird die Unendlichkeit der ἦχοι [auch im Sinne “wie bei den ἠχήματα” in der παπαδική] gewoben, und so weiter als Vierheit der Vierheit unter derselben Bedingung, bis sie zu dem äußersten Punkt aufsteigen, wo sie dünn werden, oder absteigend sich bis in die Stille zurückziehen.
“Klänge” ist natürlich keine falsche Übersetzung, aber in ihr schwingt immer die Bedeutung mit, dass sonus auch als Übersetzung für den griechischen Terminus für Ichos (ἦχος) benutzt wird, und das habe ich in meinem Vorschlag berücksichtigt.
Bei Hucbald z.B. (ebenso wie in Musica enchiriadis) gibt es die Regel, dass nur ein einziger Tetrachord für die finales zugelassen ist (nämlich der direkt unterhalb der Mesi zwischen D und G, um auf vier Elemente zu kommen, die ihn bilden)—ein wirklich markanter Unterschied zur byzantinischen Theorie, wo es diese Einschränkung nicht gibt und wo auch eine Reihe von πρῶτος nach τέταρτος gar nicht so wörtlich zu nehmen ist, denn βαρύς (schwere oder tiefe Tonart) als Name für den plagalen Dritten deutet schon an, dass dieser Phthongos für gewöhnlich unter den anderen lag: υαρ, πλδ᾽, πλα᾽, πλβ᾽, γ᾽, δ᾽, α᾽ und β᾽ macht durchaus Sinn und ändert gar nichts angesichts der Flexibilität der griechischen Modalität, die bei Gesängen mit größerem Ambitus dann auch wirklich zum Tragen kommt (da diese Verhältnisse jederzeit verschoben und transponiert werden konnten, die Umwandlung des plagios in den kyrios war die gebräuchlichste Transposition und bedeutete einen Registerwechsel: entweder nach unten oder andersherum nach oben). Um das zu verstehen, muss man aber selbst mit den höheren Weihen der Praxis vertraut sein.
Genauso muss man Hucbalds Anmerkung verstehen, dass diese Klassifizierungspraxis zwangsläufig bedeutete, dass auch hohe Melodien des protus immer auf D transponiert werden müssen (wenngleich damit keine absolute Tonhöhe gemeint war), die bei mehreren italienischen Traditionen auch von den notatores niemals so transponiert wurden, da sie die karolingische Praxis nur bedingt befolgten, wenn sie Notation benutzen, um eine mündliche Tradition aufzuschreiben.
Lieber Herr Felbick
Das war nicht gegen Sie persönlich gerichtet, aber natürlich ist Ignoranz von Philistern heutzutage ein großes und wirkliches Problem in Deutschland, weil wir haben heute sehr autozelebrative Kollegen mit großen Namen und haufenweise Pseudoprojekten, die jungen und noch unbekannten Wissenschaftlern die Möglichkeit nehmen, wirkliche Projekte zu machen, die sich mit echten Problemen befassen. Selbst die Jurys von Wissenschaftsstiftungen sind inzwischen zu verblödet, um diese Unterscheidung zu machen, obwohl das natürlich eigentlich zu ihrem Job gehörte! Wenn man nicht wirklich gut ist, hilft nur Arroganz und zum Teil auch Brutalität gegenüber der Konkurrenz, mit der man sich weder messen will noch messen kann!
Im Grunde genommen war mein Punkt nur ein hermeneutischer Allgemeinplatz, dass man historische Autoren nicht unterschätzen und herausfinden soll, wieviel sie wirklich verstanden haben, und bei Aurelian spricht einiges dafür, da er ja ausdrrücklich von Griechen spricht, die er um Rat fragt, dass er ein bisschen mehr getan hat, als Cassiodorus, Boethius und andere Autoren zu exzerpieren, die bei der karolingischen Renaissance im Vordergrund standen.
Es ist allgemein bekannt, dass die Tonare trotz der originellen Theorie dazu keine karolingische Erfindung waren, sondern sie entstand aus einer Beschäftigung mit dem Hagiopolitanischen Oktoichos, die angesichts des Konzils von 787 nahelag.
Die Römer brauchten sich da gar nicht so sehr anzustrengen, denn die sogenannte “altrömische Redaktion”, die erst im 11. Jh. fassbar wird, beweist eine grundsätzlich andere Modalität gegenüber der fränkischen, die der byzantinischen Modalität wesentlich näher stand. Die einzige Erklärung hierfür kann nur das Tonar selbst sein und wie sie das musikalische Gedächtnis umgestaltet hat. Zumindest diese Bedeutung des Tonars für die musikalische Gedächtniskunst wurde bereits von meiner Kollegin Busse Berger erkannt und erlauben Sie mir noch eine Korrektur: ich meinte natürlich Frances A. Yates, die sich vor allem mit Renaissance und das Gedächtnistheater von Giordano Bruno beschäftigt hat, Mary Carruthers arbeitete die Gedächtniskunst besonders für mittelalterliche Epochen genauer aus und bezog dabei auch griechische Patristik mit ein!
Eigentlich schrieb ich das genaue Gegenteil, dass heutige Akademiker dazu neigen, ihre eigene Ignoranz bei den Autoren einer anderen Epoche als selbstverständlich und allgemein verbreitet anzunehmen (was nicht nur ahistorisch, sondern auch anmaßend ist!). Den Absatz, den ich meine, habe ich in voller Länge bereits in dieser Diskussion zitiert.
Vielen Dank für die sehr umfassende Darstellung der Mündlichkeitsdebatte, es fehlen neben meinem Beitrag dazu auch diejenigen von Anna Maria Busse Berger, in denen wir beide an neuere Erkenntnisse ansetzten, die von Susan Yates und Mary Carruthers erarbeitet wurden. Die Anwendung auf Musik bereitet den meisten Musikwissenschaftlern offenbar immer noch große Schwierigkeiten (ich dagegen bemühte mich, sie auf lateinische und griechische Traditionen anzuwenden)... Ich persönlich habe mich stets für die lokalen Eigenheiten und Uneinigkeiten zwischen den Tonaren interessiert, deshalb würde ich aus meiner Perspektive sagen, ich bin keineswegs erstaunt, warum es so viele Fälle gibt, in denen lokale Schulen zu verschiedenen Ergebnissen kommen (wie immer die Herausgeber des Graduale triplex damit umgegangen sind, die sich diesem Problem des a posteriori nicht entziehen konnten)!
Im übrigen können Sie einfach dem Tag aurelianus reomensis folgen und Sie finden andere Diskussionen, wo ich auch auf die notierten Ichimata und das Cassiodorus-Zitat eingegangen bin, von dem wohl sein Klostername herrührt. Natürlich war ich nicht erstaunt, dass meine Kollegen nichts dazu gesagt haben! Aber natürlich ist die Präsenz der verschiedenen Systemata (Triphonia, Tetraphonia und Heptaphonia), die sich selbst in der lateinischen Rezeption erhalten hat, erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Theoretiker niemals eine Überschau dazu lieferten oder die jeweilige Rolle für die lateinische Kirchenmusik definiert haben.
Dass es vor der späteren Kopie aus Saint Amand keine Notation gab, war sicher keine Schuld der Schreiber der karolingischen Renaissance (die einfach nicht darüber verfügten!). Es ist auch leicht erkennbar, dass die Neumen von einer späteren Hand hinzugefügt wurden. Daraus wird sicher niemand schliessen wollen, man habe vorher keine enichimata gesungen, deren Herkunft Aurelian klar ausweist. Auch das ist einer der eher konventionellen Unfälle der Musikhistoriker, dass sie nicht imstande sind, auf die Quellen der jeweiligen Epoche (so “unnotiert” wie sie nun mal sind) sich einzulassen. Ich glaube, das war damals eine wichtige Motivation, mich an dem Artikel “tonary” zu verausgaben, wo ich explizit auf die Rolle der Notation eingegangen bin auch mit dem Hinweis, ab wann es sie in den Tonaren gibt. Carruthers hat hierzu eine sehr wertvolle Reflexion geliefert, dass ein Philologe bei der Mündlichkeit notgedrungen immer von der anderen Seite das Pferd aufzäumen muss!
Ich habe inzwischen die Stelle für Sie übersetzt, aber ich würde da erstmal Ihre Vorschläge abwarten.
Was nun das Zitat aus Aurelians Tonar anlangt, wollte ich eigentlich nur sagen, was sollte mich davon überzeugen, dass eine gewisse charismatische Persönlichkeit aus der Vergangenheit, die, nachdem der Plan scheiterte, seine Tochter an den Kaiser von Konstantinopel zu verheiraten (um mal den eher weniger heiligen Aspekt Eirinis anszusprechen), sich schließlich zum Kaiser beider Roms krönen ließ, und Aurelian selber, was immer seine Rolle in der Palastakademie war, genauso ignorant seien wie ein durchschnittlicher Akademiker in Deutschland es heute ist?
Der menschliche Trieb, die eigene Unbedarftheit auf das Gegenüber (aus welcher Zeit es auch immer kommen mag) zu projizieren, ist sicher verständlich, aber ich glaube, um dieses Zitat zu übersetzen und zu verstehen, sollte sehr genau unterschieden werden zwischen tonus und “bei uns” und sonus und “bei den Griechen” (selbst wenn mit letzteren auch Personal gemeint sein könnte, das einen Posten im Patriarchat von Jerusalem hatte, was zu dieser Zeit nicht Teil des byzantinischen Reichs war). Hierbei könnte also eine Lektüre meiner Beiträge nützlich sein, auch ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, was mich damals motivierte, meine Arbeit zu machen...
Das Thema Tonare hat mich immer sehr interessiert, nicht nur wegen der missing links. Aber offen gesagt, das Thema Oktoichos ist sehr groß (sogar so groß, dass die meisten Tutoren davon abraten würden) und schließt eigentlich fast nichts aus (nicht einmal Themen wie koptische, armenische oder georgische Kirchenmusik oder Synagogalgesang). Insofern sehe ich nicht wirklich eine Einschränkung, sondern vielmehr eine Öffnung des Horizonts.
Vielen Dank, ich meinte vor allem den Rückzug der Musikmediävistik auf lateinische Quellen (vielleicht für katholische Theologen sinnvoll, aber für ein Fach wie Musikwissenschaft bedeutet dies, dass das sogenannte Abendland seine eigene Kultur negiert, noch nicht einmal europäische Musikgeschichte kann mit solchen Präferenzen geschrieben werden!). Dass ein Byzantinist wie Christian Thodberg seine Dissertation ins Deutsche übersetzen lässt, wäre heute völlig undenkbar, schon alleine deswegen, weil der Kreis der fachlichen Leser erschreckend klein wäre. Auch bei meiner Doktorarbeit habe ich die falsche Sprache gewählt. Gegenüber den Musikwissenschaftlern haben die Theologen zumindest bessere Sprachkenntnisse.
Für gewöhnlich wird Heinrich Husmann als der letzte Kenner betrachtet, zu den Ausnahmen gehören sicher Constantin Floros und Neil Moran, die beide ihre Abschlüsse in Hamburg machten. Zu ersterem kann gesagt werden (da ich ihn persönlich kenne), dass er Deutschland zur Wahlheimat gemacht hat. Davon haben die Fachkollegen natürlich unendlich profitiert, sofern sie imstande waren, bestimmte Vorurteile gegenüber der Neumenkunde abzulegen.
Bis jetzt wird Musica disziplina im Artikel Hagiopolitan Oktoichos nicht zitiert. Ich würde da eher den Artikel Tonary vorschlagen.
Lutz Felbick said: